Liebe Freunde,
Wenn Ihr meine Ausführungen über die Kultur Ostafrikas im September 2007 sorgfältig gelesen habt, werdet Ihr nun mit einem besseren Verständnis der aktuellen Verhältnisse hier belohnt; Ihr werdet die Gründe für den Umbruch, der Kenia jetzt zerreißt, besser verstehen – obgleich das keinen von Euch glücklicher machen wird.
In einer Kultur der Macht – ich habe Euch das erklärt – wird die List zu einem festen Bestandteil der Weisheit; daraus resultiert, dass gegenseitiges Vertrauen unmöglich wird. Zurzeit sollten wir wirklich von den Dächern schreien: „Das geschieht, wenn Du glaubst, dass es richtig ist, andere zu betrügen – egal, ob das die Wahlen oder einen anderen Bereich des Lebens betrifft!“ Aber niemand spricht offen darüber, wenn er andere durch Betrug überlistet; so viele Menschen halten das in ihrem Innersten für richtig. Was die Verlierer so wütend macht, ist – glaube ich – die Tatsache, dass sie von Ihren Gegnern überlistet wurden.
Bis zu einem gewissen Grad ist die Verfassung, die dem Präsidenten alle Macht gibt, schuld an dieser Katastrophe. Gerade in den letzen Jahren waren Hunderte von Abgeordneten mit der Aufgabe beschäftigt, diese Verfassung zu ändern; aber sie konnten sich nicht einigen. Immer gab es Abgeordnete, die der Meinung waren, dass es ein guter afrikanischer Brauch ist, den Präsidenten mit totaler Macht auszustatten; und dann folgen Wahlen, deren Ergebnis nahezu 50:50 für beide Parteien ausgeht. Selbst ohne Betrug wäre hier die Hölle los gebrochen – weil einfach viel zu viel auf dem Spiel steht.
Das Kisumu-Center wurde gründlich geplündert. In Mombasa hat man einen Weg gefunden, die Plünderer zu zwingen, ihre gestohlene Beute zurück zu geben. Dort beruft man sich auf eine Art islamischen Fluch: Wen auch immer dieser Fluch trifft, der muss gestohlene Dinge sofort zurückgeben, anderenfalls kann er nicht mehr auf die Toilette gehen. Etliche Plünderer spürten den aufziehenden Ärger und gaben schnell alles zurück, solange noch alles in Ordnung war. Haben wir Christen nicht so eine ähnliche Einstellung? Auf jeden Fall gibt es für dieses Verhalten eine gewisse Zustimmung und einen Markt.
Der Mut einiger unser Luo-Gemeindemitglieder berührt mich; sie trauen sich, Kikuyu-Familien trotz der Drohungen der Krawallmacher Schutz zu geben. Ich habe diese Menschen gebeten, sich die Namen dieser Rowdies zu merken, damit wir zur gegebenen Zeit eine Namensliste erstellen können. Viele unserer Gemeindemitglieder haben einen sehr guten Charakter, aber ihre Angst vor Drohungen ist sehr groß.
Hinsichtlich der Schüsse auf Menschen erklärte der Chef der Polizei in Kisumu kürzlich in einem Interview, dass die Verfassung den Polizisten das Recht gibt, auf jeden zu schießen, der sich der Festnahme widersetzt. Klar – jeder rennt weg, wenn er die Polizei sieht; nach den Aussagen des Polizeichefs kann die Polizei somit auch auf jeden schießen. Wohl gemerkt – ich glaube nicht, dass sie das tut. Auch die Polizisten leben in Angst und reagieren verzweifelt.
Im Radio hörte ich ein Interview mit einem 18-jährigen Jungen, der an der Brandstiftung der Kirche in Eldoret beteiligt war, in der so viele Menschen umgekommen sind.
Journalist: „Wie fühlst Du Dich jetzt, nachdem Du daran beteiligt warst, so viele Menschen zu verbrennen?“
Junge: „Ich fühle mich schlecht und sehr schuldig: Ich habe meine Freunde getötet.“
Journalist: „Wenn die Kikuyus zurück kommen würden – würdest Du mit ihnen wieder in Frieden leben wollen?“
Junge: „Sicher, ich hätte keine Probleme mit ihnen. Aber die Kikuyus müssen nachgeben und zurücktreten.“
Journalist: „Wenn Kibaki das nicht tut – würdest Du wieder Kikuyus töten?“
Junge: „Ja, dann müssten sie getötet werden.“
Die Gewalt hat mehrere Phasen durchlaufen. Zuerst war es ein spontaner Ausbruch grimmiger Wut, als man bemerkte, dass die Wahlen manipuliert worden waren. Sehr schnell veränderte sich diese Wut in Rassenhass gegenüber Nachbarn und tätlichen Angriffen. Danach kam die Kriminalität. Alte Wunden und Trennungsgräben brachen wieder auf, leere Häuser wurden geplündert. Banden zogen von Haus zu Haus, um Kikuyus aufzuscheuchen und zu ermorden. Die Regierung verlor die Kontrolle. Kürzlich trat das Geschehen in eine neue Phase. Letzte Nacht fingen Leute von Nyalenda einen Mann, von dem sie wussten, dass er ein marodierender Gangster ist. Sie schnitten ihm die Hände und Füße ab und überließen ihn dann einfach dem Tod; als er am nächsten Morgen noch immer am Leben zu sein schien, verbrannten sie ihn in einem Haufen von Autoreifen. Solche Dinge passieren auch an anderen Orten: Menschen aus dem Slum – provoziert bis über das Maß dessen, was man aushalten kann – lynchen ihre Peiniger. Ich habe Eltern darüber klagen hören, dass sie die Kontrolle über ihre Kinder verloren haben.
Den größten Schaden aber haben Geist und Seele der Kenianer genommen. Es ist schecklich, was sie einander antun. Mein Kisii-Freund Charles (der Automechaniker, der mit uns die Wallfahrten gemacht hat) erzählte mir, dass er es gerade noch geschafft hat, mit seiner Frau und den sieben Kindern zu entkommen, als man sein Haus in der Nähe des Magadi-Centers plünderte und in Brand setzte; die Frauen in der Nachbarschaft nahmen die Kleider seiner Frau an sich und probierten, ob sie passten. Die Luos sprechen heute über die Kikuyus, wie sie früher über die verfolgten Juden sprachen: „Das ist keine schöne Geschichte, aber die haben es verdient.“ Kisumu ist jetzt „Kikuyu-frei“ und keiner scheint das zu bedauern.
Nachfolgend einige beschämende Aussagen aus einem Interview des Journalisten Koert Lindijer (Holländische Zeitung NRC) mit einem gewissen Paul Otieno. „Sobald wir nur eine eine fragwürdige Bemerkung über Kibaki hören, fangen wir an zu plündern. Unser nächstes Ziel ist das letzte Hotel in Kisumu, das Eigentum der Kikuyus ist. Wir sind fast ein bisschen süchtig danach, „umsonst einzukaufen“. Es ist nicht schön, was hier in Kisumu passiert, aber es eröffnet auch neue Möglichkeiten. Wir sollten nicht bedauern, dass die Kikuyus jetzt weg sind; sie haben sich hier selbst bereichert. Soweit es die Regierung betrifft, gab es eine gewisse Diskriminierung der Luos. Jetzt können wir – die Luos – ihre Plätze einnehmen.“ Soweit Koert Lindijer schreibt, will Otieno ein neues Kenia gründen; ein Kenia, in dem ethnische Gruppen nahe beieinander leben – nicht miteinander, wie es nach der Unabhängigkeit Kenias mehr und mehr der Fall war. „Wir müssen wieder ganz zurück dahin gehen, wo wir angefangen haben.“ Meiner Meinung nach propagiert Paul Otieno ganz einfach die Rassentrennung. Und er ist nicht „irgend jemand“: er ist der Finanzexperte und ein wichtiges Vorstandsmitglied von KUAP.
Lasst uns nun von etwas Fröhlicherem sprechen. Die Bedeutung guter persönlicher Beziehungen wurde durch einen Besuch von 24 unserer Jugendlichen in Holland im Dezember auf ganz besondere Weise in den Vordergrund gerückt. Es war ein erinnerungswürdiges Abenteuer: Kenianer im Schnee, Kenianer auf dem Eis, Kenianer, die sehen, wie sehr sich die Menschen in Holland gegenseitig Vertrauen schenken. Fides hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben. Aber sie hatten auch Bedenken, dass sie heil wieder zuhause ankommen. Was für eine Erlösung für mich, als ich sie alle aus dem Bus steigen sah – alle lachten ! Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte. Um ihr Visum zu bekommen, mussten sie der holländischen Botschaft in Nairobi versprechen, dass sie sich nach ihrer Rückkehr sofort wieder in der Botschaft zurück melden. Wir hatten geplant, dass ihr Bus auf der Heimfahrt nach Kisumu zu diesem Zweck bei der Botschaft in Nairobi hält. Aber als sie nach Nairobi kamen, herrschte dort das pure Chaos. Glücklicherweise konnte sich der Bus einem Konvoi anschließen und so kamen sie – begleitet von einer Polizeieskorte – doch noch nach Kisumu. Aber es stand natürlich nicht zur Debatte, dass der Konvoi bei der holländischen Botschaft in Nairobi Halt machen würde. Die Gruppe versuchte, die Botschaft frühmorgens telefonisch zu informieren, aber sie erreichen niemanden dort. Als sie dann in Kisumu waren, sammelten wir ihre Pässe ein und mussten sie von einem Boten nach Nairobi bringen lassen, um sie dort der Botschaft zusammen mit einem unterzeichneten Dokument vorlegen zu lassen, in dem bestätigt wurde, dass alle Jugendlichen wieder nach Kenia zurückgekehrt waren. Aber als der Bote von Mill Hill der Botschaft in Nairobi die Pässe vorlegte, wurde er hinaus gejagt mit den Worten, dass man sich an die Regeln halten müsse: Jeder müsse persönlich vor der Botschaft zu erscheinen und sich zurück melden. Frank und Anne Boomers waren an diesem besagten Tag auch in Nairobi; ihr Konvoi wurde aus dem Hinterhalt angegriffen; Verbrecher hatten bereits Reifen unter den voll besetzten Bus gelegt und sie angezündet; sie entkamen fast alle – es gab „nur“ ein Todesopfer, als der Fahrer mit Vollgas davon fuhr. Es war Krieg – aber einige Leute in der Botschaft schienen auf einem anderen Planeten zu leben. Pater Gerry schrieb darauf hin einen scharfen Brief und zehn Tage später war die Angelegenheit erledigt – auch durch die Vermittlung einiger Botschaftsangehöriger mit gesundem Menschenverstand.
Soweit es meine persönliche Zukunft betrifft, hat der Erzbischof zu Weihnachten meine Bitte akzeptiert, in das Ausbildungszentrum nach Nairobi zu gehen. Am 1. Januar hatte ich mit meinem direkten Vorgesetzten eine diesbezügliche Besprechung. Jetzt liegt es an mir, einen Zeitplan zu erarbeiten. Es ist hart zu gehen, solange die Zustände in unserer Gemeinde so von Tumulten geprägt sind. Deshalb werde ich das alles noch bis Anfang Juli verschieben – und selbst dann wird es mir schwer fallen, von hier weg zu gehen.
Noch einige Neuigkeiten über unser AIDS – Orphans Projekt (OMA-project) (orphan = Waise / Anm. d. Übers.) Wir versuchen, es trotz des herrschenden Chaos weiter voran zu treiben. Die Gemeinde hat nun eine Krankenhausversicherung für 85 Familien eingerichtet, bei denen die Großmutter als Familienoberhaupt gilt; dies betrifft insgesamt 420 AIDS-Waisen. Zurzeit organisieren wir kostenfreie poly-klinische Behandlungen und die entsprechende Verwaltung (Herausgeber: nur 20 Euro/OMA-Familie und Jahr; Beiträge können auf Oosterbeek-Konto Stichwort „Burgman, OMA-project“ überwiesen werden).
Es gibt einen interessanten Nebeneffekt. Aufgrund der Unruhen steigen die Lebensmittelpreise in Schwindel erregende Höhen. Das betrifft die Armen, ganz besonders die Witwen. Dank des OMA- Projektes gibt es plötzlich eine aussagekräftige Liste mit den Namen dieser bedürftigen Witwen. Das ermöglicht es uns, im Notfall anhand dieser Liste gezielt Unterstützung zu leisten.
Danke für Euer Interesse und Eure Anteilnahme. Ich wünsche Euch allen ein gesegnetes Osterfest.
Viele Grüße
Hans Burgman