Liebe Freunde,
als ich im Oktober nach Kisumu zurückkam, hatte sich vieles verändert. Alphonce war nicht
mehr da und an seinem Schreibtisch saß stattdessen Gabriel Owira, der offensichtlich sehr gut zu uns passt. Er ist ein sehr enthusiastischer Mann und spricht die Sprache der einfachen Leute. Von Anfang an kamen wir sehr gut miteinander aus.
In meinem vorherigen Brief an Euch berichtete ich schon über die etwas voreilige Veröffentlichung des strategischen 5-Jahres-Plan durch die KUAP-Leitung –
es gab damals noch keine genauen Schätzungen über das, was benötigt wird. Diese Schätzungen liegen jetzt vor und haben – Gott sei Dank – zu beträchtlichen
Änderungen im 5-Jahres-Plan geführt. Das neue Gebäude der Hauswirtschaftsschule in Nyalenda wächst von Tag zu Tag – es wird großartig werden.
Wegen der anhaltenden Regenfälle macht uns eine zwar kleine aber doch sehr unangenehme Flutkatastrophe in unserer Gegend schwer zu schaffen. 150 Familien mussten evakuiert werden und haben alles verloren, was sie besaßen; ungefähr 50 Häuser sind zerstört. Das Unglück wurde im Wesentlichen dadurch verursacht, dass die Behörden sich nicht um die Funktionstüchtigkeit des Abwassersystems kümmern – das macht einen Holländer wie mich wütend; aber die Menschen hier leiden schon so lange. Sogar jetzt agieren die Behörden nur im Schneckentempo. Glücklicherweise reagierte KUAP/Pandipieri sofort und bot erste Hilfsmaßnahmen an. Wir rütteln die Behörden wach und versuchen, den Opfern der Flut zu helfen, damit sie wieder ihr früheres Leben aufnehmen können. Der Vorstand hat alle um Hilfe gebeten; wenn auch Ihr Euch angesprochen fühlt, könnt Ihr gerne eine Spende auf mein Mill Hill Konto überweisen – Kennwort: „for Burman-Flood Relief“ (Hilfe für die Flutopfer durch Pater Burgman – Anm. d. Übers.)
Ich besuchte die Schulen, in denen die Flutopfer Schutz gefunden haben. Die Menschen hier haben unterschiedliche Arten, mit solch einem Unglück umzugehen. In den Notfallstationen wurden die Kinder betreut; sie amüsierten sich dort großartig: sie tollten und sprangen dort umher und freuten sich. Als Europäer fühlte ich mich verpflichtet sie zu ermahnen und ich sagte zu ihnen: „ Um Himmels willen, Kinder – so werdet niemals jemanden finden, der Euch hilft! Ihr müsst jammern, wehklagen und wimmern – auf jeden Fall aber miserabel aussehen!“ Da wurde mir aber auch klar, dass gerade der Frohsinn dieser kleinen Kinder, die mehr als die Hälfte der Menschen hier stellen, der Grund dafür ist, dass wir im Grunde doch eine fröhliche Gemeinschaft sind.
Immer deutlicher werden für mich die Unterschiede zwischen Europäern und Kenianern. Einer davon ist, dass Europäer eine klare Verbindung zwischen Zahlen und der Realität sehen, während das für die Menschen hier nicht von hoher Bedeutung ist. Sie erkennen nur schwer, wenn eine Zahl nicht korrekt ist. Zum Beispiel: Die Mitglieder der Gruppe „Fluthilfe“ versuchten zu schätzen, wie viel Geld eine Durchschnittsfamilie benötigt, um für einen Tag Nahrung zu beschaffen – sie kamen auf 3000 Schilling/Familie. Das entspricht etwa der Hälfte eines Monatslohnes für die Glücklichen, die überhaupt eine Arbeit haben. Aber nicht einer hatte den Mut auszusprechen, dass diese Zahlen gar nicht stimmen können. Jetzt hatten sie ein Problem: Wie bekommt man diese Summe zusammen – und das multipliziert für insgesamt 120 Familien und für jeweils fünf Tage.
Dazu will ich folgendes bemerken: Wenn Menschen auf diese Art mit Geld umgehen, denken die Europäer sofort, dass dies aus Habgier geschieht; ich bin mir aber sicher, dass es nur daran liegt, dass die Kenianer überhaupt kein Gefühl für den Umgang mit Zahlen haben.
Es gibt noch etwas Interessantes zu berichten. Für den 30. Dezember plant KUAP/Pandipieri ein Treffen – einen gemeinsamen Abend – mit den Armen hier. Am Nachmittag des 30. Dezember werden sich auch Mitglieder ähnlicher Gruppen wie KUAP/Pandipieri mit uns treffen und den Abend und die Nacht in und um unsere Kirche verbringen. Wir werden zusammen essen und die Eucharistie feiern und dann am Morgen des 31. Dezember nach Hause gehen. Eine ähnliche Nachtwache haben wir schon einmal organisiert – die Menschen hier lieben das.
Ich fragte, wie viele Besucher erwartet werden. „Oh – so ca. 2.500 Leute”, sagte man mir. “Entschuldigt bitte,” sagte ich, “aber woher wollt Ihr Essen für so viele Menschen bekommen?” „Wir werden eine Kuh und ein paar Ziegen kaufen“, war die Antwort. „Und wo sollen all diese Menschen schlafen?“ fragte ich weiter. „In der Kirche oder so,“ lautete die Antwort. (Die Kirche hat für höchstens 700 Menschen Platz – damit ist sie aber auch schon fast überfüllt). „Wo sollen sie die Leute waschen?“ war die nächste Frage. „Wir werden einfach ein paar Trennwände aus Bastmatten machen, dahinter kann man sich waschen“. Meine Frage nach den Toiletten beantwortet man wie folgt: „Oh, wir haben vier Toiletten, und vielleicht kommen ja auch ein paar Leute weniger, als wir glauben. Das wird schon gehen.“ Da habe ich dann einfach nicht mehr weiter gefragt. Liebe Freunde, wisst Ihr was? Irgendwie werden sie das auch wirklich schaffen – auf die eine oder andere Art! Denn sie alle waren und sind wahre Krisenmanager. Ein bisschen zynisch möchte ich anmerken: „Für uns hier im Westen Kenias ist „Planung“ gleichbedeutend mit „Krise“. Aber ich habe mittlerweile akzeptiert, dass unsere Gedankengänge in unterschiedlichen Richtungen verlaufen.
Lasst uns über die Korruption sprechen: es gibt eine Korruption der Reichen und eine Korruption der Armen. Die Reichen stehlen, weil sie reich sind und noch mehr wollen. Dies ist die Art der Korruption, die eine Gesellschaft und ein Land ruiniert. Arme sind korrupt, weil sie ein Problem lösen müssen: das können Krankenhausrechnungen für ein Familienmitglied sein oder Schulgeld, das für die Kinder bezahlt werden muss. Was tust du, wenn du vor schier unüberwindlichen Problemen stehst? Der Gedanke, sich das Benötigte zu stehlen, kommt dir den Sinn. Aber das Stehlen ist extrem gefährlich. Wenn du gefasst wirst, wanderst du in das Gefängnis oder wirst sogar gelyncht. Die einzige sicher Art zu stehlen ist, einen Freund zu bestehlen; der wird dir vergeben, weil er versteht, warum du das getan hast und dass du in einer Zwickmühle steckst. Wenn er dich erwischt, wirst du ihm versprechen, das nie wieder zu tun und du wirst ihm auf vielfältige Weise zeigen, wie dankbar du dafür bist, dass er dir vergeben hat. Auf diese Weise ist Diebstahl hier auch eine Art, gute Beziehungen zu pflegen. Viele meiner weißen Freunde quält der Gedanke daran, dass ihnen so etwas passiert ist; ich habe gelernt, darüber zu grinsen. Noch immer aber unterhöhlt dieses Stehlen unsere Gemeinschaft, denn es zerstört auch Vertrauen. Und ohne Vertrauen gibt es keine Zusammenarbeit und ohne Zusammenarbeit ist kein Fortschritt möglich.
Als ich jetzt wieder damit anfing, die Kranken hier zu besuchen, wurde mir bewusst, dass ich wieder ganz hier in Pandipieri angekommen war. Die schweren Regenfälle haben die Pfade zwischen den armseligen Hütten in kleine Seen aus grünem Schlamm verwandelt – hin und wieder ein Stein dazwischen, auf den man treten kann. Aber auch das ist ein Stück Weisheit:
Alles, was du brauchst,
um im Schmutz vorwärts zu kommen,
sind ein paar Steine, auf denen du laufen kannst.
Auf meinen wöchentlichen Besuchen werde ich immer von Mitgliedern unserer Gemeinschaft begleitet. Wir fragen die Kranken, wie es ihnen geht, ob sie schon im Krankenhaus waren und ob sie ihre Medizin bekommen haben. Wir wollen wissen, ob sich jemand um sie kümmert und ob sie durch das Pandipieri Gesundheitsprogramm unterstützt werden. Dann nehmen wir sie bei der Hand und beten mit ihnen: wenn es ihnen möglich ist und sie das wollen, bekommen sie die Heilige Kommunion.
Sehr oft leiden die Menschen unter wirklich abscheulichen Krankheiten. Viele von ihnen hat AIDS zu einem Wrack oder zu Krüppeln mit fürchterlichen Eitergeschwüren gemacht. Wir kannten einen Mann mit einem vereiterten Bein – rund um das Bein bildeten sich Lachen aus Eiter auf dem Fußboden. Eine Frau hatte keine heile Haut mehr an ihrem Bein. Vorgestern zeigte mir ein junger Mann sein stark geschwollenes Bein – voller Karfunkel und schwarzer Geschwüre. Er erzählte mir, dass er nicht mehr zum Arzt geht, weil er kein Geld dafür hat. Aber in seiner Hütte gab es ein Fernsehgerät und einen Videorecorder. Zurück bei meinem Auto stellte ich fest, dass einer der Reifen platt war. Das Vorhängeschloss meines Ersatzrades war verrostet und der Reißverschluss meiner Werkzeugtasche funktionierte auch nicht mehr, sodass ich ein Loch in die Tasche schneiden musste. Da kann man wirklich sagen: „Was für ein Tag!”
Ein neues Phänomen hier in Kisumu sind die dreirädrigen Motorradtaxis. Die Menschen hier haben ihnen den Namen Tuktuk gegeben. Es ist lustig zu sehen, wie Sprache gebraucht wird. Natürlich ist Tuktuk eine Imitation des Geräusches dieser Motorräder. Genau wie „Pikipiki“ für Motorrad oder „Tengatenga“ für den Traktor und „Potipoti“ für ein Motorboot. Fahrradtaxis werden „Bodaboda“ genannt, weil man sie ursprünglich dafür nutzte, um die Grenze zu überqueren (engl. Border – die Grenze). Es gibt eine Menge von diesen lustigen Ausdrücken. Der Daumen ist der „Hahn der Finger, das Handgelenk ist der „Nacken der Hand“ und die Augäpfel sind die „Eier der Augen“. Eine Tür nennt man hier den „Mund des Hauses“ und das Augenlid ist der „Deckel auf dem Topf“. Der Horizont wird als „Fuß des Himmels“ beschrieben und wenn man etwas vergisst, sagt man hier „du verdrehst deinen Kopf“. Aber ich glaube, solche Redewendungen gibt es überall auf der Welt. Zuhause bei mir in Twente sagt man zum Beispiel „Wenn Du keinen Hintern hast, musst Du es durch die Rippen schwitzen“. (Versucht einmal, dass in Euren eigenen Dialekt zu übersetzen – erst dann werdet Ihr das richtig verstehen).
So – das soll für heute genug sein.
Ich wünsche Euch allen eine glückliche und gesegnete Weihnachtszeit
Hans Burgmann